23. August: Sacco und Vanzetti-Gedenktag in Massachusetts (USA) Seit 1977 wird alljährlich am 23. August im US-Bundesstaat Massachusetts der Sacco-und Vanzetti-Gedenktag begangen. Er soll an einen der größten Justizmorde Amerikas erinnern: In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1927 wurden die beiden italienischen Einwanderer und Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. 1908 waren der 17-jährige Sacco und der 20-jährige Vanzetti, deren Familien als durchaus wohlhabend galten, unabhängig voneinander aus Italien nach Amerika ausgewandert, wo sie sich mehr Freiheit erhofften. Erst im Mai 1917 lernten sie sich kennen. Vanzetti, von Beruf Konditor, fand - nach Jahren als Wanderarbeiter - in Plymouth im Staat Massachusetts in einer Seilerei Arbeit (seinen mit Widerwillen erlernten Beruf wollte er nie wieder ausüben), die ihm allerdings wieder gekündigt wurde wegen seiner Beteiligung an einem Streik. Sacco hingegen erlernte keinen Beruf, sondern half nach seiner Schulzeit seinem Vater in der Landwirtschaft, obwohl er dafür wenig Interesse verspürte. In den ersten Jahren in den USA schlug er sich als Wasserträger bei einer Baufirma und als Gießereiarbeiter in einem Eisenwerk durch, bis sich ihm 1910 in einer Schuhfabrik eine Ausbildung zum Zuschneider bot. Beide engagierten sich seit ab 1913 in der anarchistischen Bewegung. Jedenfalls sind in dieser Zeit erste Kontakte zu immigrierten italienischen Anarchisten nachweisbar. 1917 emigrierten sie für einige Monate nach Mexiko, um sich dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg in Europa zu entziehen (Präsident Wilson hatte in jenem Jahr Deutschland, Österreich, Bulgarien und der Türkei den Krieg erklärt). Nach der Rückkehr verdingte sich Sacco als Tagelöhner, bis er in einer Schuhfabrik als Akkordarbeiter unterkam. Vanzetti hingegen machte sich nach verschiedenen Gelegenheitsarbeiten im Jahr 1919 als Fischhändler selbstständig; denn eine Festanstellung fand er nirgends, weil er wegen aktiver Streikbeteiligung auf einer schwarze Liste stand, die unter den Kapitalisten kursierte. Im Gegensatz zu Sacco, der schon in jungen Jahren in Italien mit sozialistischem Gedankengut bekannt wurde, war Vanzetti ein frommer Katholik. Doch das änderte sich in seinen ersten Jahren in den USA: Die harten Entbehrungen langer Erwerbslosigkeit ließen ihn an den christlichen Heilsversprechungen zweifeln und sich zunehmend zur anarchistischen Lehre hinwenden. Er las zunächst recht unsystematisch alle möglichen politischen und sozialkritischen Schriften, bis er über seinen Wohnungsgeber, einem Anarchisten, in die Theorien des Anarchismus und in anarchistische Kreise eingeführt wurde. In seiner während der langen Haft niedergeschriebenen Autobiographie fasste er seine anarchistische Zielsetzung so zusammen: "Ich suchte meine Freiheit in der Freiheit aller, mein Glück im Glück aller." Sacco und Vanzetti machten sich in den italienischen "Communitys" in den USA rasch einen Namen: sie organisierten Versammlungen und waren auch aktiv im Aufbau revolutionärer Gewerkschaften, wobei Sacco im Gegensatz zu seinem Freund Vanzetti eher ein Mann der Tat war und an den Theorien nur wenig Gefallen fand. Die wirtschaftliche Situation in den USA nach dem 1. Weltkrieg war alles andere als rosig! Arbeitslosigkeit, Lohndrückerei und Preissteigerungen grassierten. Die Antwort der Arbeiterbewegung auf diese Situation waren Streiks, gegen die die Kapitalisten Polizei und ihre Privatarmeen aufmarschieren ließen. Die große russische Revolution beflügelte auch die linken Organisationen und Gruppen in den USA, was die US-Regierung in Panik versetzte und die Kommunisten und Kommunistinnen, Sozialisten und Sozialistinnen, Anarchisten und Anarchistinnen für die desaströse Wirtschaftslage des Landes verantwortlich machte und Angst schürte. Was Wunder, wenn breite Bevölkerungskreise mit Genugtuung die vor allem gegen Einwanderer (und hier wiederum besonders gegen solche aus Griechenland, Russland, Polen und Italien) gerichteten Repressionen begrüßten? Ab November 1919 kam es immer häufiger und unter Bruch geltender Gesetze zu äußerst brutalen Razzien gegen Eingewanderte. Verhaftete wurden auf barbarischste Weise zusammengeschlagen, wenn nicht gar staatsseits ermordet. So wurde beispielsweise am 2. Mai 1920 ein anarchistischer, aus Italien eingewanderter, Schriftsetzer aus einem Fenster im 14. Stockwerk eines New Yorker Polizeigebäudes gestürzt. An einem auf diesen Mord hin gegründeten anarchistischen Untersuchungskomitee beteiligten sich auch Sacco und Vanzetti. Letzterer sollte am 9. Mai auf einer Versammlung über die Umstände des Todes des anarchistischen Druckers reden. Dazu kam es aber nicht mehr, weil er zusammen mit Sacco am 5. Mai verhaftet wurde. Sie sollten für zwei Verbrechen haftbar gemacht werden, die sie nicht begangen haben: Mit der miserablen Wirtschaftslage nahmen auch bandenmäßige Raubüberfälle in erheblichem Maße zu. Am 24. Dezember 1919 ereignete sich in Bridgewater ein bewaffneter, aber fehlgeschlagener Raubüberfall auf einen Geldtransport. Wenige Monate später, am 15. April 1920, überfielen in South Braintree nahe Boston zwei bewaffnete Männer den Zahlmeister und den Wachmann einer Schuhfabrik, die rund 15.800 Dollar an Lohngeldern von einem Fabrikgebäude in ein anderes bringen sollten. Sie wurden bei dem Überfall erschossen; die Täter entkamen mit ihrer Beute in einem Buick. Es gab zwar einen Tatverdacht gegen eine Bande, doch der die Ermittlungen führende Polizeioffizier ließ diesen bald fallen und lenkte ihn fanatisch auf die anarchistische Bewegung. Denn es gab eine durch nichts bewiesene Zeugenaussage über den Raubüberfall von Bridgewater, derzufolge eine Gruppe von Anarchisten die Tat begangen haben soll. Das war für die Polizei der willkommene Anlass, einen Zusammenhang zwischen den beiden genannten Raubüberfällen zu konstruieren und den Anarchisten anzulasten. Sie durchsuchte zunächst das Haus, in dem ein italienischer Anarchist wohnte, der am 15. April, dem Tag des tödlichen Überfalls, einer Meldeauflage nicht nachgekommen war. Wie sollte er auch? War er doch inzwischen aus den USA in sein Herkunftsland abgeschoben worden! Sie traf aber einen anderen, dort gleichfalls wohnenden italienischen Anarchisten an und entdeckte in einem Schuppen Reifenspuren. Der Hausbewohner gab an, daß dort normalerweise sein Kraftfahrzeug der Marke Overland (also kein Buick!) abgestellt, aber gerade in Reparatur sei. Nach der Hausdurchsuchung tauchte der Genosse unter, weil er zu Recht als Italiener und vor allem als Anarchist Repressionen erwarten konnte (er wanderte bald danach ganz legal wieder nach Italien aus ohne dass die Polizei davon etwas mitbekommen hatte). Die Polizei wies den Besitzer der Autowerkstatt an, sie zu informieren, wenn der Fahrzeugbesitzer oder sonst wer auftauchen sollte, um das Auto abzuholen. Dies geschah am 5. Mai, als er und drei weitere Männern, darunter Sacco und Vanzetti, zur Werkstatt kamen. Die vier entfernten sich aber bald wieder, ohne den Wagen mitzunehmen; möglicherweise hatten sie die Lunte gerochen, nachdem die Frau des Werkstattbesitzers in aller Hast ins Nachbarhaus eilte, um von dort aus zu telefonieren. Sacco und Vanzetti gingen zunächst zu Fuß und bestiegen dann eine Straßenbahn, aus der heraus sie verhaftet wurden. Tagelang erfuhren sie nichts über die Gründe ihrer Verhaftung. Sie vermuteten als Haftgrund ihre politische Tätigkeit und glaubten, deshalb deportiert zu werden. Doch Vanzetti wurde wegen des Raubmordes vom 24. Dezember 1919 in Bridgewater, angeklagt und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, ohne daß ihn entlastende Beweismittel und Zeugenaussagen in dem Verfahren berücksichtigt wurden. Einer Revision wurde auch nicht stattgegeben. Im Gegenteil: Zusammen mit Sacco wurde ihm ein weiterer Prozess gemacht, wegen des Raubmordes vom 15. April 1920 in South Braintree. Für Sacco und Vanzetti wurde ein Verteidigungskomitee gegründet, das sich um Anwälte und um die Prozesskosten kümmerte, aber auch propagandistisch den Fall öffentlich machte und Protestaktionen organisierte. Es waren vor allem anarchistische Gruppen, die das Komitee unterstützten, aber auch liberale Organisationen und BürgerInnen traten dem Komitee bei. Einzig die Kommunistische Partei (Communist Party) verweigerte die Solidarität (sie vertrat die Position der Rassisten: Sacco und Vanzetti sind gefährliche Kriminelle, mit denen die Partei nichts zu schaffen haben will. Später aber, 1927, nach dem Bekanntwerden der Todesurteile, als die Solidaritätsbewegung sich weiter verbreiterte und internationalisierte, entdeckte plötzlich auch die Communist Party ihr solidarisches Gefühl, um den Fall für sich zu instrumentalisieren Von den von ihr gesammelten Spendengeldern für die weitere Verteidigung Saccos und Vanzettis lieferte sie nur einen geringen Bruchteil an das Komitee ab, den Rest ließ sie in ihre Parteikasse fließen!). Der Prozess war von vornherein von dem selben rassistischen Richter aus Vanzettis erstem Verfahren und ebensolchen rassistischen Geschworenen auf Vernichtung der beiden an den ihnen zur Last gelegten Verbrechen völlig unschuldigen Anarchisten angelegt: Dutzende von Entlastungszeugen wurden nicht gehört, nur weil sie "Eingewanderte" waren; entlastendes Beweismaterial wurde unterschlagen. Am 14. Juli 1921 wurden Sacco und Vanzetti für schuldig befunden und zum Tode verurteilt (das Urteil wurde auch dann nicht aufgehoben, als im November 1925 ein tatsächlich Beteiligter an dem Überfall in South Braintree aussagte, daß Sacco und Vanzetti nicht dabei gewesen waren). Es war von Anfang an ein politisches Verfahren, dem nur die beiden Verbrechen beigesellt worden waren, um ein "glaubwürdiges" Urteil zu fällen, das nicht nach Gesinnungsurteil roch (man erinnere sich an das fast 40 Jahre zuvor gefällte Todesurteil im Chicagoer Haymarket-Prozess!). Das Todesurteil löste nicht nur in der us-amerikanischen Arbeiterbewegung schärfste Proteste aus; unmittelbar nach Bekanntwerden des Hinrichtungstermins war es in aller Welt zu heftigen Protesten mit zum Teil blutigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Neben Kundgebungen und Demonstrationen kam es auch zu Streiks sowie zu einem Generalstreik in Südamerika. Es gab mehrere Bombenanschläge (nicht nur in den USA!). In Genf stürmte eine große Menge von Arbeitern und Arbeiterinnen sowie Studierende das Völkerbundgebäude. In Südamerika, Europa, Asien, Nord- und Südafrika sowie Australien mobilisierten vor allem anarchistische Organisationen und radikale Gewerkschaften für die Verteidigung der beiden Verurteilten. In Deutschland waren es die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) und die Anarchistische Vereinigung, die eine breite Protest- und Solidaritätsbewegung ins Leben riefen. Viele Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller übten international Solidarität. Selbst der Papst, beileibe kein Freund von Atheisten und Anarchisten, intervenierte. Mehrere Jahre dauerte der Kampf um die Aufhebung des Urteils. Doch die us-amerikanische Klassenjustiz wollte den Tod Saccos und Vanzettis, obwohl die wahren Täter mittlerweile allesamt bekannt waren, und vollstreckte ihr Todesurteil auf dem elektrischen Stuhl im Staatsgefängnis Charleston/Massachusetts. Der Fall beschäftigte noch die nächsten Jahrzehnte und tut es immer noch! Unter anderem wurde dieser politische Justizmord zur Argumentationshilfe für die Gegner der Todesstrafe in den USA. Mehrfach wurde der Fall auch verfilmt. Der vermutlich erste Film (ein österreichischer Stummfilm) wurde 1927 gedreht: "Im Schatten des elektrischen Stuhls". Liedermacherinnen und Liedermacher verarbeiteten in den 1960er Jahren den Stoff zu Songs. In mehreren Städten und Gemeinden Italiens sind Straßen und Plätze nach Sacco und Vanzetti benannt. Das stalinistische Regime der UdSSR "ehrte" die beiden hingerichteten italo-amerikanischen Anarchisten auf ihre bekannt zynische Art und Weise: Sie richtete auf ihrer nach "Sacco und Vanzetti" benannten Sowchose (d. i. ein staatlicher landwirtschaftlicher Großbetrieb) 1946 ein Zwangsarbeitslager ein, das bis 1953 bestand und in dem bis zu 2.400 Menschen inhaftiert waren. In Amerika selbst vergingen 50 Jahre, bis der Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis, 1977 aufgrund neuerer Untersuchungen zu dem Schluss kam, daß - was schon in den 1920er Jahren vor aller Welt ganz offen sichtbar war - die beiden italoamerikanischen Anarchisten kein faires Gerichtsverfahren hatten. Von den offensichtlichen Manipulationen der Anklage und des Gerichts sagte er nichts. Er sprach zwar von Vorurteilen und Intoleranz und erklärte - wie schon erwähnt - den 23. August (den Hinrichtungstag also) im US-Bundesstaat Massachusetts zum Sacco-und-Vanzetti-Gedenktag. Das Todesurteil des rassistischen Gerichts allerdings hob er nicht auf, so dass es sich bei dem jährlichen Gedenktag nur um eine teilweise Rehabilitierung Saccos und Vanzettis handeln kann. Auch die Todesstrafe wurde in Massachusetts erst vor wenigen Jahren abgeschafft (die letzte Hinrichtung erfolgte in 2003). An Literatur über Sacco und Vanzetti gibt es mittlerweile keinen Mangel mehr. Allerdings sieht es auf dem deutschsprachigen Büchermarkt damit etwas dürftig aus. Empfehlen können wir für Interessierte vor allem folgende Schriften: Augustin Souchy: Sacco und Vanzetti – 2 Opfer der amerikanischen Dollarjustiz. Verlag Der Syndikalist, Berlin 1927; Neuauflage Verlag Freie Gesellschaft, Frankfurt/Main 1977. Nach dem Erlöschen des Verlags wurde das Buch im Karin Kramer Verlag, Berlin, erneut aufgelegt. Leider vergriffen und allenfalls antiquarisch zu bekommen. Helmut Ortner: Zwei Italiener in Amerika. Der Justizmord Sacco & Vanzetti. Zambon-Verlag, Frankfurt/Main 1993. Ortners Buch ist mehr ein historischer Roman, der sich sehr eng am Quellenmaterial orientiert. |
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