Anarchistische Gruppe Mannheim



Horst Stowasser
(* 07.01.1951 / † 30.08.2009)


Von den "ganz alten" Anarchistinnen und Anarchisten, die den Hitlerterror, seine KZs und zum Teil auch noch den repressiven DDR-Stalinismus überlebt haben, dürfte wohl kaum noch jemand leben. Auch die Reihen der Wenigen, die nach dem militärischen Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 als junge Menschen zum Anarchismus gestoßen und heute zwischen 70 und 80 Jahre alt sind, haben sich bereits stark gelichtet. In den letzten Jahren erreichten uns zudem hin und wieder Nachrichten vom Tod von Genossinnen oder Genossen, die in den 1960er Jahren während der Jugend- und Studentenrevolte eine neue anarchistische Bewegung, die zunächst eine Synthese von Anarchismus und Marxismus anstrebte, ins Leben gerufen haben und bis zuletzt Anarchistinnen und Anarchisten geblieben sind. Zu diesen zählte auch Horst Stowasser, von dessen Ableben wir erfahren mussten.

In den letzten dreißig Jahren war er im In- und Ausland ein gefragter Vortragsredner. Auch in Mannheim referierte er in den 1990er sowie in den letzten Jahren vor stets zahlreichem Publikum zu Themen des Anarchismus. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse nahm er an manchem internationalen anarchistischen Kongress teil und konnte so zahlreiche Kontakte in viele Länder knüpfen.

Geboren in Wilhelmshaven, stand er schon als 15jähriger Gymnasiast unter Beobachtung der politischen Polizei und des Verfassungsschutzes und saß in seinem anarchistischen Leben einige Male in verschiedenen Gefängnissen (nicht nur in der BRD!) ein. Denn einige Jahre seiner Jugend verbrachte er in Argentinien, ging dort zur Schule und kam dort erstmals in Kontakt mit Anarchisten. "Lauter honorige Herren!", witzelte er einmal gegenüber dem Verfasser dieses Nekrologes. In Gesprächen mit diesen "honorigen Herren" lernte er bald, dass die freiheitlichen Ideen, die ihm vage im Kopf herumspukten, bereits Bestandteile jener Weltanschauung waren, die sich Anarchismus nennt. Kurz: Horst wurde Anarchist und blieb es dann auch zeitlebens. In Südamerika eignete er sich nicht nur anarchistische Theorien an, sondern war auch im praktischen Sinne für eine anarchistisch-trotzkistische Untergrundorganisation tätig und wurde etliche Male verhaftet.

Als Horst 1969 wieder nach Wilhelmshaven zurückkehrte, fand er dort das Mitte desselben Jahres aus einer Abspaltung des von einem Linkssozialdemokraten gegründeten "Sozialistischen Jugendbundes" hervorgegangenen "Anarchosyndikat Wilhelmshaven" vor, dem er sofort beitrat. Die Gruppe umfasste in der Regel 40 bis 50 Mitglieder und betrieb auch einen eigenen rein anarchistisch ausgerichteten Buchladen. Horsts lateinamerikanische Erfahrungen waren selbstverständlich eine große Bereicherung für die Gruppe. Sofort betätigte er sich unter Schülerinnen und Schülern sowie Lehrlingen als Agitator für die libertäre Idee. Auf dem zu Pfingsten 1970 in Hamburg-Blankenese stattgefundenen "Treffen aller deutschsprachigen Anarchisten" war Stowasser nicht anwesend, doch übernahm er sehr bald die Herausgabe des auf diesem Pfingsttreffen beschlossenen internen Zirkulars "Anarcho-Info". Zuvor wurde es von einer Gruppe in Biberach an der Riss im hektographischen Vervielfältigungsverfahren zusammengestellt. Mit der Übernahme durch Horst bzw. das Wilhelmshavener Anarchosyndikat bekam das Info aufgrund des bei der Herstellung eingesetzten Offsetdruckverfahrens ein angenehmeres Aussehen. Überhaupt wurde das Zeitungsmachen zu einem besonderen Hobby von Horst. Viele der von ihm ins Leben gerufenen Blätter waren allerdings recht kurzlebig, was vor allem an der Finanzierung lag. Vor allem schwebte ihm eine "anarchistische Massenzeitung" vor, die sich aber aus verschiedenen Gründen nicht realisieren ließ. Die von ihm verantworteten Publikationen hatten durchweg ein recht professionelles Aussehen, was daran lag, dass er sich zunächst einen Composer (eine Art Kugelkopfschreibmaschine, mit der sowohl Flatter-, Block- als auch zentrierter Zeilensatz möglich war) anschaffte, später dann auf Fotosatz umstieg. Seine Artikel und Aufsätze zeichnete er nur selten mit seinem Namen; in der Regel kürzelte mit "sto" oder wählte selbstironisierend die spanische Bezeichnung "el cojo" (zu deutsch: "Der Hinkende" - in Anspielung auf sein durch eine Kinderlähmung verkürztes rechtes Bein).

Nach seinem Abitur studierte er Agrarwissenschaft und Romanistik, machte danach einige Weltreisen und arbeitete in verschiedenen Jobs.

Bereits 1971 begann er mit dem Aufbau des Anarchistischen Dokumentationszentrums (ADZ, später in Anarchiv umbenannt). In Wetzlar, wohin er von seiner Geburtsstadt aus übersiedelte, residierte das ADZ in den Kellerräumen eines Hauses in der Turmstraße. Auch in Wetzlar widmete er sich der libertären Propaganda und gab - neben der spanischsprachigen anarchistischen Zeitschrift "Impulso" - gemeinsam mit einer kleinen Gruppe (darunter auch Nichtanarchisten) in den 1980er Jahren die alternative Stadt- und Landzeitung "Lahn-Dill-Bote" heraus, die immerhin gut acht Jahre lang monatlich erschien. Schon mit der ersten Ausgabe des Blattes geriet Horst mit der Justiz in Konflikt, nachdem er dort einen antimilitaristischen Artikel mit dem Tucholsky-Zitat "Soldaten sind Mörder" als Überschrift platziert hatte. Dadurch sah sich der Chefredakteur der erzkonservativen Tageszeitung "Wetzlarer Neue Zeitung" in seiner Eigenschaft als Reserveoffizier beleidigt, der in dem Kommandeur der dortigen Kaserne einen weiteren Beleidigten suchte und fand, und der wiederum den Verteidigungsminister als Gesamtbeleidigten für die Bundeswehr gewinnen konnte. Es kam zu einem stets mit Protestaktionen begleiteten Prozess durch mehrere Instanzen, der schließlich mit einer Gefängnisstrafe endete.

Neben seiner Propagandatätigkeit, dem Zeitungsmachen und der Betreuung des Anarchivs schrieb er verschiedene Artikel für anarchistische und andere linke Zeitungen sowie mehr als ein ganzes Dutzend anarchistischer Bücher, von denen vor allem das 1986 erstmals erschienene Buch "Leben ohne Chef und Staat" und das 2007 aufgelegte dickleibige Werk "Anarchie!" zu Bestsellern auf dem Büchermarkt wurden.

Natürlich war Horst nicht nur der eifrige Sammler und Verfasser libertären Schrifttums. Er war auch bei antimilitaristischen Aktionen genauso präsent wie auf Demonstrationen gegen bevorstehende Räumungen besetzter Häuser oder gegen Naziaufmärsche.

Schon in seiner Wetzlarer Zeit entwickelte er seine Idee des "Projektanarchismus" und fasste diese in der Schrift "Projekt A" und 1990 in der schmalen Broschüre "Wege aus dem Ghetto. Die anarchistische Bewegung und das Projekt A" zusammen. Seine Idee war, irgendwo Anarchismus nicht nur zu plakatieren und zu propagieren, sondern auch praktisch zu leben, indem in einer Kleinstadt, in der es noch keine linke Szene gibt, ein Netzwerk anarchistisch-alternativer Projekte entstehen sollte, und zwar nach basisdemokratischen Prinzipien - sowohl in Bezug auf Lebens- und Arbeitsformen, Finanzen, Freizeit und vielem mehr. Er war der Ansicht, dass es eben nicht genüge, ständig nur zu predigen, dass Anarchie möglich sei; vielmehr müsse der Versuch gewagt werden, Anarchie tatsächlich möglich zu machen. Horst fand für seine Projekt-A-Idee viele Interessierte in der BRD, Österreich und der Schweiz. In der hessischen Provinzstadt Alsfeld sollte es realisiert werden, wohin Horst deswegen zog. Doch bevor es mit dem Projekt erst richtig los gehen konnte, war es schon gescheitert. Alsfeld blieb daher für Horst ein recht kurzes Intermezzo, und er zog mal wieder um: nach Neustadt in der Pfalz, wo einige Leute aus dem Projekt-A-Zusammenhang dennoch mit dem Aufbau selbstverwalteter Betriebe unterschiedlicher Gewerbezweige sowie Wohngemeinschaften begannen und sich unter der Bezeichnung WESPE (Werk Selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen) zusammenschlossen. Ein Hauptprojekt war der heutige Ökohof mit stets gut besuchter Kulturkneipe. Dafür wurde der ehemals leerstehender Gebäudekomplex einer stillgelegten Möbelfabrik, den die Stadtverwaltung am liebsten abgerissen hätte, angekauft und von Grund auf saniert. Von den mehr als einem Dutzend Betrieben sind noch etwa die Hälfte in Neustadt ansässig, einige lösten sich wieder auf oder sind aus dem WESPE-Projekt ausgestiegen, andere wechselten ins Umland. Natürlich war Horst mit Feuereifer dabei. Ein sich monatlich treffender anarchistischer Stammtisch, sowie der Mitte dieses Jahres eröffnete Infoladen mit der Bezeichnung "Tante Emma-Laden" (benannt nach der amerikanischen Anarchistin Emma Goldman) wurden von ihm mitinitiiert. Sein letztes großes Engagement galt einem generationenübergreifenden Wohnprojekt, das in dem Anwesen "Eilhardshof" gefunden wurde und derzeit weitestgehend in Eigenleistung mehrerer künftiger Bewohnerinnen und Bewohner nach denkmalpflegerischen und ökologischen Gesichtspunkten saniert und umgebaut wird.

Berührungsängste gegenüber Menschen "mit anderem politischen Stallgeruch" kannte er nicht. Horst war trotz aller politischer respektive sozialrevolutionärer Tätigkeit auch Genussmensch, wie alle diejenigen wissen, die je mit ihm zu tun hatten, und wovon auch sein im Frühjahr dieses Jahres in Zusammenarbeit mit Christof Gauglitz erschienenes Buch "Auf den Spuren des Glücks. Eine anarchische Genussreise durch Frankreich" zeugt.

Zweifelsfrei hinterlässt Horst auch für die AGM eine so schnell nicht zu schließende Lücke. Beabsichtigten wir doch, mit ihm zusammen noch einige Vorträge und Lesungen zu veranstalten.

In Neustadt wird trotz Horsts Tod das Wohnprojekt weiter umgesetzt werden müssen. Und auch der "Tante Emma-Laden" und der Stammtisch werden sicherlich nach dem ersten Schock weiterlaufen. Über den Fortbestand und die Weiterentwicklung von Horsts "Lieblingskind", dem Anarchiv, wird man sich den Kopf zerbrechen müssen. Schließlich ist das Anarchiv gewissermaßen Horsts Lebenswerk, an dem er bereits seit 1971 gearbeitet hat und das in der BRD als anarchistisches Archiv einmalig ist.

Natürlich wird Horst den Neustädter Genossinnen und Genossen fehlen. Aber das Begonnene darf jetzt nicht aufgegeben werden, denn "Wirklichkeit wächst aus Verwirklichung", wie Erich Mühsam formulierte.

JKF.







Terminkalender:


16.10.2021
Demonstration: Freiheit für Jan!
Gegen die autoritären Verhältnisse, in Nürnberg und Überall!
14:30 Uhr · Veit-Stoß-Platz · Nürnberg
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26. bis 29.05.2022
VI. Anarchistische Buchmesse Mannheim
Weitere Informationen auf der Website der Anarchistischen Buchmesse
Jugendkulturzentrum FORUM sowie JuZ in Selbstverwaltung · Mannheim